Die Zeitbombe, die der KGB in der DDR zurückließ

 

Die beiden Männer im dunkelgrauen Wartburg waren nur als Schatten zu erkennen. Trotz der Kälte ließen sie den Motor nicht laufen. Da die Scheiben nicht beschlugen, mussten sie eine Standheizung haben. Die gab’s in der DDR der 80er Jahre nur für die großen Volvos des Politbüros und Observierungsfahrzeuge der Staatssicherheit. 

 

Tatsächlich waren die beiden Offiziere im Auftrag der Stasi unterwegs. Sie sollten für die Sicherheit von Markus Wolf sorgen, Meisterspion der DDR, Chef der Hauptverwaltung Aufklärung und seit ein paar Monaten im Ruhestand. Zugleich sollten sie protokollieren, wer bei Wolf ein- und ausging. So hatte es Erich Mielke befohlen, oberster Chef des Geheimdienstes, Minister für Staatssicherheit und Mitglied des ZK. 

 

An diesem Abend des Winters 86/87 beobachteten die Männer im Wartburg eine ganze Reihe von Besuchern, die das Haus am Spreeufer 2 betraten: Vertraute Wolfs aus der HVA,  Nachwuchskader der Partei und sogar Vertreter der kritischen Intelligenz. Wolf empfing sie in einer großzügigen Maisonette-Wohnung, die mit viel Aufwand⁠1 hergerichtet worden war - inklusive Unterhaltungselektronik aus dem Westen. Das Haus war ein Plattenbau, aber seine Fassade war an die historische Architektur des Nikolai-Viertels angepasst - mit gelber Wandfarbe und einem Stufengiebel im holländischen Stil. Für DDR-Verhältnisse eine Luxusadresse.

 

Wolf führte seine Gäste an die Fenster und erklärte ihnen die Aussicht: gegenüber, auf der Spree-Insel, der Marstall - vor 200 Jahren erbaut vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm I;  und rechts daneben - wenn man sich etwas aus dem Fenster beugte - der Palast der Republik mit seinen bronzegetönten Spiegelglas-Fassaden. Nach dem Zusammenbruch der DDR würden dort Techno-Parties gefeiert werden, danach die Baukräne für die Rekonstruktion des Berliner Stadtschlosses anrücken. Ein Symbolort der deutschen Geschichte.  

 

Wolf war zu diesem Zeitpunkt über 30 Jahre lang Chef des Auslandsgeheimdienstes der DDR gewesen, der HVA. Ein großgewachsener Mann  mit kantigem Gesicht und kühlen Augen, der den Funktionärsdurchschnitt auch intellektuell überragte. Im Westen nannten sie ihn lange Zeit den „Mann ohne Gesicht“, weil keine Fotos von ihm existierten. Wolf hatte die HVA zu einem der effizientesten Geheimdienste der Welt ausgebaut. Er war ein strategischer Denker und plante seine Züge lange im Voraus. Agenten, die er als Schläfer in die Bundesrepublik schleusen ließ, kamen manchmal erst nach Jahrzehnten zum Einsatz. Einer von ihnen war Günther Guillaume, der mit einem kleinen Tabakladen in Frankfurt anfing und am Ende rechte Hand des Kanzlers Willy Brandt wurde. Das war Wolfs größter Triumph. Und zugleich eine Niederlage: denn als Guillaume enttarnt wurde, stürzte der Visionär Brandt und es kam der Realist Helmut Schmidt ins Kanzleramt, der den NATO-Doppelbeschluß gegen den Widerstand seiner Partei durchdrückte.

 

Wolf galt als skrupellos. Er setzte gut aussehende Agenten auf einsame Sekretärinnen an und lockte Manager in außereheliche Affären, die mit versteckten Videokameras aufgezeichnet wurden. Mit den Videobeweisen - „Kompromat“ im Jargon der HVA - wurden sie zu Geheimnisverrat oder Spionage gezwungen. Deshalb gehörten die Devisenhotels der DDR einer Tochtergesellschaft des Geheimdienstes, der Interhotel. In den Hotels Mercure in Leipzig, Bellevue in Dresden, Palasthotel in Berlin und Neptun in Rostock hatte der Dienst ganze Etagen für diesen Zweck verwanzt. Die CIA nannte die Methode „Operation Romeo“ und hat ihr ein eigenes Kapitel⁠2 auf ihrer Website gewidmet.

 

Außerhalb des Territoriums der DDR setzte die HVA Telefonüberwachung ein, um die dunklen Geheimnisse der westdeutschen Elite auszuforschen. Gegenüber dem FAZ-Journalisten Peter Jochen Winters rühmte sich Wolf, dass es auf seine Anregung hin gelungen sei, die Telefongespräche im Großraum Bonn - auch solche vom Autotelefon aus - mithören zu lassen⁠3. Doch das war eine Untertreibung: tatsächlich hörte die HVA 100.000 Anschlüsse im Westen ab, 2.000 Mitarbeiter protokollierten Tag und Nacht Telefongespräche⁠4.

 

Zur Vorbereitung von Abhöraktionen sammelte die HVA systematisch persönliche Daten der Wirtschafts- und Politelite - wie Adressen und Telefonnummern⁠5. Das berichten Gotthold Schramm und Klaus Eichner, beide bis 1990 hohe Offiziere der HVA und Spezialisten für Spionageabwehr. Was die Überwachung zutage förderte, sammelte die HVA in drei Aktenbeständen: der Zentralen Personenkartei ZPK, der Zielpersonenkartei ZP und vor allem der Operativen Personenkontrolle OPK. Ein Name, der alles sagt. Klarnamen wurden auf separaten Karteien abgelegt, Zugang zu beidem hatte nur die höchste Führungsebene.

 

Das Persönliche zu instrumentalisieren war eines der Markenzeichen von Wolf. Die Beschaffung von Kompromat und dessen Einsatz zur Manipulation waren Lehrstoff in der Ausbildung seiner Agenten. Dazu betrieb die HVA die sogenannte Waldschule in Gosen. Die Lehrstühle hießen “Operative Methodik“ oder „Operative Psychologie“. Nachzulesen in „Anatomie der Stasi“⁠6, einem Forschungsbericht der Stasi-Unterlagenbehörde. Die Agentenschule lehrte systematisch, wie man Personen ausforscht, ihre Schwachstellen als Kompromat einsetzt und emotionale Bedürfnisse von Zielpersonen instrumentalisiert. Hinzukamen die üblichen konspirativen Techniken, mit denen man Entdeckung vermeidet. Hunderte von Agenten gingen Jahr für Jahr durch diese Schule - zur Einführung oder Fortbildung - und wurden durch sie geprägt. Das Denken, das hier entwickelt, perfektioniert und weitergegeben wurde, gehörte zur DNA der DDR-Spionage. Und Markus Wolf war die Verkörperung dieses Denkens.

 

Diese Details sind heute noch relevant. Die Methode Wolf hat sich im Kampf der Geheimdienste als effektive Waffe erwiesen. Aber ihr Einsatz ist keineswegs auf die Welt der Spionage beschränkt. Sie ist ebenso perfekt geeignet für die Welt des Organisierten Verbrechens. Wer sich früher mit Kompromat zur Spionage drängen ließ, wird heute vielleicht Insider-Infos zu einer Unternehmensübernahme weitergeben. Die Millionen eines Fonds in ein zweifelhaftes Projekt investieren. Oder die Verfolgung von Steuersündern behindern.

 

Die Arbeitshypothese dieses Podcasts lautet, dass zwar die DDR untergegangen ist, nicht aber ihre Methoden. Dass sich die DNA von Markus Wolf in zahlreichen Wirtschaftsverbrechen der letzten drei Jahrzehnte wiederfindet. Dass die Erben der Stasi - und des KGB - unsere Gesellschaft unterwandert haben - und dieser Prozess fortschreitet. Markus Wolf war mit hoher Wahrscheinlichkeit eine der Schlüsselfiguren, die die Weichen für diese Entwicklung vor und während der Revolution von ´89 gestellt haben.

 

Als Wolf seine Gäste an jenem Winterabend empfängt, ist er seit ein paar Monaten in Rente, Generaloberst a.D. 

 

Erich Mielke hatte ihm zum Abschied im November 86 zum zweiten Mal den Karl-Marx-Orden verliehen - zusammen mit einem Anachronismus in Samtschatulle, dem „Generalsdolch mit Gravur“. Die Pensionierung kam vorzeitig. Wolf war erst 63, sein Chef Mielke 15 Jahre älter und immer noch im Geschäft. Wolf hätte also weitermachen können, aber er wollte es nicht. 

 

Dafür gab es mehrere Gründe. Offiziell verkündete Wolf, er wolle sich um das geistige Erbe seines verstorbenen Bruders und um die Familiengeschichte kümmern. Intern spielte auch das Verhältnis zwischen Wolf und Mielke eine Rolle. Beide waren sich in gegenseitiger Verachtung ⁠7verbunden. Mielke misstraute dem charismatischen Spitzenspion, der immer auch ein potentieller Nachfolger war.

 

Und er missbilligte dessen Privatleben - insbesondere als Wolf zum dritten Mal heiratete. 

 

Umgekehrt war Mielke für Wolf die Inkarnation des unbelehrbaren Altstalinisten. Eines Spießers aus der Wandlitz-Siedlung, der den eigenen Staatschef ausspionieren ließ und dazu persönlich die Masseurin abschöpfte, die Honnecker regelmäßig kommen ließ.  Wie man später in den Stasi-Akten⁠8 nachlesen konnte. Abneigung mag für Wolf also ein Motiv für den Abschied gewesen sein. 

 

Es gab aber ein weiteres. Seit Anfang der 80er Jahre sieht Wolf Risse im System des real existierenden Sozialismus. Er erkennt, dass die DDR im Wettkampf der Systeme zurückfällt und dass sie langfristig keine Überlebenschance hat, wenn sie sich nicht reformiert. In seinen Memoiren, Titel „Spionagechef im geheimen Krieg“, wird er sich später an sein „Unbehagen an der Politik“ erinnern; daran, dass er den Personenkult um Honnecker „unerträglich⁠9“ fand. 

 

Wenn Wolf den Zusammenbruch der DDR für möglich hielt, dann war sein Rücktritt eine strategische Maßnahme. Der weitblickende Schachspieler wollte sich aus der Schusslinie bringen und abseits vom Zentrum der Macht Vorbereitungen für eine Zukunft nach der DDR treffen. So war es wohl kein Zufall, dass ihm die dafür nötige Infrastruktur auch nach seiner Pensionierung zur Verfügung stand: zwei Offiziere der HVA plus Sekretärin und bei Bedarf sogar ein Fahrer. 

 

Am Spree-Ufer schreitet der Abend voran. Wolf ist ein charmanter Gastgeber, es gibt guten russischen Wodka, Freunde aus Moskau haben ein Pfund Kaviar geschickt, wie üblich verpackt in der Prawda⁠10. Dann kommt der Generaloberst a.D. zur Sache: der Zustand des Landes sei kein Geheimnis, Reformen das Gebot der Stunde. Ob sich die Damen und Herren vorstellen könnten, Verantwortung zu übernehmen bei einer Neugestaltung des Sozialismus? Die alte Funktionärsriege könne den Wandel nicht bewältigen; es müssten unverbrauchte Gesichter aus der zweiten Reihe sein, Menschen mit neuen Ideen⁠11.

 

 Die Runde ist interessiert. Man diskutiert bis tief in die Nacht über eine bessere Zukunft; Vorbild sind die Reformen, die Gorbatschow in der Sowjetunion angestoßen hat. Die Begriffe Glasnost und Perestroika fallen. Der Berliner Journalist Andreas Förster kommt in seinem Buch über das verschwundene Stasi-Vermögen zu dem Schluß, Wolf und seine Leute wollten „in der Stellvertreter-Schicht des Polit- und Wirtschaftsapparats den Boden für einen Umsturz der SED-Spitze bereiten⁠12“. 

 

Doch Wolf spielt ein doppeltes Spiel. Tatsächlich ist dieser Abend - und eine ganze Reihe folgender - mit Anatoli Nowikow, dem Residenten des KGB in Karlshorst, abgestimmt. Und natürlich mit Moskau. Wolf ist Teil der Operation „Lutsch“ - dem letzten großen Unternehmen des KGB auf dem Boden der DDR. Die Operation soll Einfluss und Interessen der Sowjetunion absichern für den Fall, dass die DDR zusammenbricht. Weder Wolfs Nachfolger Großmann noch Stasi-Chef Mielke sind eingeweiht⁠13. 

 

Warum aber hat Moskau so großes Vertrauen in Markus Wolf? 

 

Die Antwort auf diese Frage liegt in der Familiengeschichte der Wolfs. Markus Wolf wird 1923 in Hechingen geboren als Sohn des Mediziners und Schriftstellers Friedrich Wolf.  Der hat das Grauen des Ersten Weltkriegs erlebt und tritt aus Pazifismus der kommunistischen Arbeiterbewegung bei. Nach der Machtergreifung flieht die Familie über Zwischenstationen in der Schweiz und Frankreich nach Moskau⁠14.  Friedrich Wolf genießt dort als linker Schriftsteller einiges Ansehen. Sohn Markus wächst in einer russischen Nachbarschaft auf, unweit weit des Kreml, spricht bald fliessend Russisch und wird Mischa genannt. Mit 15 tritt er der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol bei und schliesst die Schule mit Bestnote in Marxismus-Leninismus ab. 

 

In dieser Zeit haben die Eltern eine Datscha in der Intellektuellen-Siedlung Peredélkino westlich von Moskau. Die Kinder spielen mit einem Wolfshund. Der beißt eines Tages ein Mädchen, weil er Tollwut hat. Er muss erschossen werden, aber Schusswaffen sind in der Siedlung verboten, also muss man ihn erschlagen. Aber wer soll das tun? Es ist Markus Wolf, der sich bereit erklärt - der spätere Geheimdienstchef der DDR. Und nachdem er den Wolfshund erschlagen hat, hängt er ihn auch noch auf - um sicher zu gehen⁠15. 

 

Als Hitler die Sowjetunion überfällt, schreibt der Vater Texte für die Lautsprecher-Propaganda an der Front und agitiert in Radiosendungen gegen Hitler; Markus Wolf tritt der Kommunistischen Internationale bei und wird als Anfang-Zwanzig-Jähriger zum Agenten für Sabotage-Einsätze hinter den Frontlinien ausgebildet. In seinem Buch „Die Kunst der Verstellung“ schreibt er später: „Ohne zu zögern stellte sich unsere Familie an die Seite der Verteidiger der SU. Mag der Beitrag eines jeden von uns, gemessen am Blutzoll unserer sowjetischen Freunde, gering gewesen sein, dieser Teil unserer Biographien zählt zum positiven Teil unserer Lebensbilanz und ist nicht auszulöschen⁠16.“ 

 

Das klingt schon sehr pathetisch. Das Zitat zeugt davon, wie sehr sich Wolf der Sowjetunion verbunden fühlte, damals in seiner Jugend und auch 50 Jahre später.  Markus Wolf ist elf, als er nach Moskau kommt. Er wird russisch sozialisiert, spricht Russisch wie seine Muttersprache, verehrt die Kultur - und er ist überzeugter Kommunist. Wie schon sein Vater. Seine Freunde kennt er aus den unterschiedlichen Jugendorganisationen der KP, sie teilen dieselben Ideale, sie sind offensichtlich bereit, ihr Leben einzusetzen für Partei und Vaterland. Es ist diese gemeinsamen Erfahrungen und Überzeugungen, die das Fundament für lebenslange Verbindungen bilden. Viele dieser im Kadermilieu der KPdSU aufgewachsenen jungen Männer werden in den kommenden Jahrzehnten Karrieren machen - und ein Netzwerk bilden. Markus Wolf gehört dazu. 

 

Gleich nach Kriegsende, im Mai ´45, wird er nach Berlin geschickt, um Aufgaben für die KP zu übernehmen. Zunächst als Reporter beim Berliner Rundfunk. Dann als Diplomat.

 

Anfang der 50er Jahre beschließt Stalin, dass die Aufklärung Westdeutschlands in Zukunft vom Boden der DDR erfolgen solle. Auf Anregung Moskaus gründet die DDR einen Geheimdienst, der zwar von ihr finanziert, aber vom KGB geleitet wird. Markus Wolf ist Teil des Gründungsteams und wird 1956, mit nur 33 Jahren, Chef der Auslandsaufklärung. Es ist eine Entscheidung, die getroffen wird, weil die Parteiführung in Moskau den jungen Markus Wolf als einen der Ihren betrachtet. Und weil Wolf dieses Vertrauen über mehrere Jahrzehnte nie enttäuscht, wird er in der Endphase der DDR eine Schlüsselfigur der Operation Lutsch. 

 

Aus der Sicht Moskaus beginnen die 80er Jahre unerfreulich. In den USA kommt nach zwei schwachen Präsidenten 1981 der Hardliner Ronald Reagan an die Macht, der es zu seinem erklärten Ziel macht, die Sowjetunion durch ein Wettrüsten in den Bankrott zu treiben. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Stationierung der Mittelstreckenrakete Pershing 2, darauf folgt das Star Wars Programm. 

 

Während für den Warschauer Pakt der Druck wächst, die Rüstungsausgaben zu steigern, läuft die Wirtschaft immer schlechter. In den 80er Jahren werden die Schwächen der Planwirtschaft offensichtlich: Missernten, schwache Produktivität, technologischer Rückstand, Devisenmangel, leere Regale. 1982 kann sich die DDR nur mit einem Kredit aus Bonn vor dem Offenbarungseid retten: eine Milliarde Westmark gegen Erleichterungen in Sachen Reisefreiheit ist der Deal, arrangiert von Stasi-Offizier Schalk-Golodkowski und  CSU-Chef Franz-Josef Strauß. 

 

In Moskau stehen sie dem Geschäft ablehnend gegenüber. Sie fürchten, dass die DDR unter den Einfluss der Bundesrepublik gerät und mahnen SED-Chef Honecker, Distanz zu wahren. In Geheimdienstkreisen kursieren Gerüchte, dass der KGB den starrsinnigen Alten aus dem Spiel nehmen will.

 

Aber das wäre ein Kurieren an Symptomen. Wladimir Kryutschkow, Chef des Ersten Direktorats des KGB, erkennt als einer der ersten, dass die Sowjetunion Gefahr läuft, den Wettkampf der Systeme zu verlieren. Kryutsckow ist verantwortlich für die Auslandsaufklärung und damit einer der wenigen, die alle Informationen für ein realistisches Lagebild auf dem Tisch haben. Er kennt den Lebensstandard im Westen, die Zahlen zu Wirtschaftswachstum und Zahlungsbilanz. Und er sieht, dass es bergab geht. In den Vasallenstaaten zeigen sich bereits erste Auflösungserscheinungen. In Polen wehren sie sich mit Hilfe des Papstes gegen die kommunistische Herrschaft; in Ungarn wird der Eiserne Vorhang undicht und in der DDR fordern jetzt schon Liedermacher und Pfarrer die SED heraus.

 

Die Unzufriedenheit hat eine politische und eine wirtschaftliche Dimension. Für Moskau steigen die Kosten der Herrschaft über Osteuropa, und so reift bei den weitsichtigen in KGB und Zentralkomitee die Idee, das Vorfeld Osteuropa aufzugeben, um die Sowjetunion zu retten. Gorbatschow wird der bekannteste Vertreter dieser Denkschule, im Westen verehrt für seine Offenheit. Aber Gorbatschow und seine Mitstreiter im KGB sind keine Wohltäter. Sie sind Führer einer Weltmacht und wollen deren Interessen durchsetzen. 

 

Deshalb entwickelt Kryutschkow den Plan für die Operation Lutsch. Vorbereitung für den Tag X: die Auflösung des SED-Regimes und die Wiedervereinigung Deutschlands. In diesem Szenario würden die Geheimdienste der DDR liquidiert, ihre Agenten enttarnt und die Augen des KGB in Ostdeutschland blind. Die geheimdienstliche Logik erforderte also, rechtzeitig eine völlig neue Struktur zu schaffen, unabhängig von der Staatssicherheit - und ohne deren Wissen. Ein Netzwerk von Agenten, die auch in einem wiedervereinigten Deutschland ihre Aufgabe im Sinne Moskaus erfüllen würden. Deutsche dem Pass nach, aber Kommunisten im Geist. 

 

Der moskautreue Markus Wolf hat dazu die Verbindungen hergestellt. Seine Diskussionsabende in der Privat-Wohnung am Spree-Ufer waren ein Teil der Operation. Die eigentliche Anwerbung der Agenten aber übernahmen KGB-Offiziere⁠17. 

 

In Dresden beobachtet der lokale Stasi-Chef Herbert Köhler, dass der KGB Leute aus der zweiten und dritten Reihe der Stasi anspricht, hinter dem Rücken der Führungsoffiziere⁠18. Köhlers Kollege Horst Jehmlich ist in dieser Zeit der Verbindungsoffizier zum lokalen Büro des KGB - und damit zu Wladimir Putin. Der habe ihn hintergangen, beklagt sich Jehmlich noch zwanzig Jahre später gegenüber einer britischen Journalistin⁠19. Das Bundesamt für Verfassungsschutz, das beide Stasi-Offiziere vernimmt, kommt in einem vertraulichen  Dossier⁠20  1992 zu dem Schluß, dass der KGB ab 1988 mit dem Aufbau  „geheime(r) Strukturen“ im Osten begann, „die gute Aussichten auf eine weitere Verwendung in der sich konstituierenden neuen Bundesrepublik hatten.“ 

 

Lutsch, auf Deutsch: Sonnenstrahl, ist also eine Operation zur langfristigen Unterwanderung eines wiedervereinigten Deutschland. Sie ist das trojanische Pferd, das der KGB auf dem Gebiet der DDR zurücklässt. Erst durch diese Operation werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Moskau dort auch nach der Wende noch Einfluss ausüben kann. 

 

Doch zwei Jahre nach der DDR löst sich auch die Sowjetunion auf, die staatliche Kontrolle des Geheimdienstes endet. Und so beginnen die Netzwerke der Stasi und des KGB auf eigene Rechnung zu arbeiten. Sie bestehen aus Agenten, die BND und CIA nicht auf dem Radar haben, weil sie bisher nicht an der Spionagefront eingesetzt wurden. 

 

Es sind Phantome. Mit Zugriff auf Geheimakten mit den Schwachstellen der westdeutschen Elite, auf Nummernkonten mit Milliarden von Dollar und D-Mark. Und mit engen Kontakten zum organisierten Verbrechen, das schon lange ein Partner der Ost- Geheimdienste ist - im Kampf gegen das Technologie-Embargo der NATO. 

 

Es sind perfekte Voraussetzungen für die Operation „Sonnenstrahl“. Eine Operation, die drei Zielen dient: der persönlichen Bereicherung, der Finanzierung des Netzwerks und der Schwächung des Westens. Erst nach drei Jahrzehnten beginnen die Behörden in Europa zu verstehen, dass Russland kriminelle Organisationen einspannt, um politische Ziele zu verfolgen. Europol nennt das Phänomen „Hybride Crime⁠21“ - und meint damit die Umtriebe von Hackern, Trollen, Saboteuren und Islamisten. Die wahre Dimension der Bedrohung wird aber auch von Europol nicht erkannt. 

 

Einer der zentralen Schauplätze der Operation „Sonnenstrahl“ wird die Wirtschaft sein. Etliche der großen Wirtschaftsverbrechen der kommenden 30 Jahre werden Merkmale aufweisen, die auf geheimdienstlich geschulte Täter hinweisen. Dazu gehört zum Beispiel die koordinierte und quasi synchrone Pflichtverletzung von Behörden, Banken, Wirtschaftsprüfern, Managern und oft auch der Politik. Wenn wir uns in den späteren Folgen die einzelnen Taten vornehmen, wird das Muster gut zu erkennen sein. 

 

Markus Wolf wird an all dem nicht mehr teilnehmen. Aus Altersgründen, aber auch, weil er inzwischen das bekannteste Gesicht der ostdeutschen Auslandsspionage ist. In den Wirren der Wende flieht er für ein Jahr nach Moskau, kehrt zurück, wird angeklagt und freigesprochen, und verbringt schließlich seinen Lebensabend in seiner Maisonette-Wohnung am Spreeufer, wo er  2006 im Alter von 83 Jahren stirbt. 

 

Aber es gibt jemanden, der die Familientradition fortsetzt: sein Sohn Franz Thomas Alexander - ausgebildet in der juristischen Kaderschmiede der SED in Potsdam. Er wanderte in den 90ern nach Moskau aus und tauchte nach ein paar Jahren plötzlich wieder im Westen auf - als Verwalter von Offshore-Firmen des russischen Alpha-Imperiums. Ein Mischkonzern mit Verbindungen zum Organisierten Verbrechen, der dem Oligarchen und Putin-Vertrauten Michail Fridman⁠22 gehört. 

 

Franz Wolf personifiziert eine historische Kontinuität, in der Familientraditionen, ideologische Überzeugungen, Freundschaften und Machtstreben eine Rolle spielen. Am Ende dienen sie alle demselben Zweck: der Durchsetzung eines geopolitischen Machtanspruchs, den die Herrscher im Kreml alle gleichermaßen verfolgt haben - vom Zaren bis zum Autokraten.

 

 

1 https://www.spiegel.de/politik/talk-im-turm-i-a-e6c9bad8-0002-0001-0000-000013502021

2 https://www.cia.gov/stories/story/romeo-spies/

3 Winters, Markus Wolf, S. 144

4 „Tapping about 100,000 telephone lines in West Germany and West Berlin around the clock was the job of 2,000 officers.“ Diese Aussage geht auf ein Interview zurück, das der Autor mit Joachim Gauck, seiner zeit Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde, führte.

 

Koehler, John O.. Stasi: The Untold Story Of The East German Secret Police (English Edition) (S. 9). Kindle Edition.

5 Eichner/Schramm, Konterspionage. Die DDR-Aufklärung in den Geheimdienstzentren, Berlin 2010, S.262

6 Helmut Müller-Enbergs: Hauptverwaltung A (HV A).

Aufgaben – Strukturen – Quellen (MfS-Handbuch). Hg. BStU. Berlin 2011.

7 Winters, Markus Wolf, S.186

8 https://www.berliner-zeitung.de/archiv/akte-aus-stasi-sonderarchiv-so-ueberwachte-mielke-margot-honeckers-affaeren-li.1384592

9 Markus Wolf, Spionagechef im geheimen Krieg, 1998; S. 423

10 https://www.spiegel.de/kultur/christoph-hein-ueber-den-osten-von-der-ddr-wird-nichts-bleiben-sie-wird-vergessen-werden-a-2358a728-5146-4e6c-8349-10a2c0b87522?context=issue

11 Markus Wolf, In eigenem Auftrag, Bekenntnisse und Einsichten. Schneekluth, München 1991.


 

„In meiner Wohnung trafen sich Menschen aus unterschiedlichen Bereichen – Künstler, Wissenschaftler, ehemalige Kollegen –, um über die Zukunft unseres Landes zu sprechen.“„In meiner Wohnung trafen sich Menschen aus unterschiedlichen Bereichen – Künstler, Wissenschaftler, ehemalige Kollegen –, um über die Zukunft unseres Landes zu sprechen.“

12 Andreas Förster, Auf der Spur der Stasi-Millionen, Berlin 1998, S. 31

13 Belton, Putins Netz, S.60

14 Peter Jochen Winters, Markus Wolf, Berlin 2021; S. 38ff

15 Winters, Markus Wolf, S. 58

16 Wolf, Die Kunst der Verstellung,  Zitat S. 51

17 Wolf offenbarte in einem Interview mit dem Journalisten Andreas Förster, dass sie Mitglieder einer geheimen, eigens für Lutsch eingerichteten KGB-Gruppe waren, die Wladimir Kryutschkow direkt unterstand.

 

Förster, Stasi-Millionen, S29/30

18 https://archive.org/stream/ger-bt-drucksache-13-10900/1310900_djvu.txt

19 Belton, Putins Netz, S.61

20 Bundesamt für Verfassungsschutz, Erkenntnisse über eine geheime KGB-Struktur in Deutschland, zitiert nach Förster, Stasi-Millionen S. 30

21 Europol, The changing DNA of serious and organized Crime, Brüssel, 2025; https://www.europol.europa.eu/publication-events/main-reports/changing-dna-of-serious-and-organised-crime

22 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/sohn-des-ddr-spions-markus-wolf-diskrete-geschaefte-am-affenfelsen-1.1646186

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